Das Gerechtigkeitsempfinden hängt vom Serotoninspiegel ab

Der Gerechtigkeitssinn und der Serotoninspiegel in unserem Gehirn hängen zusammen: Je mehr Serotonin, desto mehr Unehrlichkeit sind wir bereit, einem anderen Menschen zu verzeihen.

Unsere Vorstellungen davon, was fair ist und was nicht, entstehen in der frühen Kindheit. Wir rufen unser erstes „Das ist nicht fair!“ im Sandkasten und hören es unser ganzes Leben lang nicht mehr – zum Beispiel einem Auto zu, das uns im Stau am Straßenrand überholt hat (wobei in diesem Fall ein sehr kindlicher Schrei meist in einer unaussprechlichen Form ausgedrückt wird). Wir alle sind dafür, dass Unehrliche immer bestraft werden. Es ist jedoch kein Geheimnis, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Vorstellungen von Fairness haben: Manche können sich mehr leisten, andere weniger. Wovon hängt das „Maß an Fairness“ ab?

Forscher der Universität Kyoto (Japan) führten folgendes Experiment durch. Sie baten mehrere Freiwillige, ein bekanntes psychologisches Spiel zu spielen, mit dem man seine Toleranz gegenüber unfairen Angeboten bestimmen kann. Im Kern geht es darum, dass ein Spieler (z. B. ein Computer) einen bestimmten Geldbetrag findet und anbietet, ihn aufzuteilen. Er kann das Geld auf verschiedene Arten aufteilen: gleichmäßig oder mit einem Vorteil zu seinen Gunsten. Beispielsweise werden Ihnen von hundert Rubeln 30 angeboten, und Sie können das Angebot annehmen oder ablehnen. Auf den ersten Blick wäre es ehrlicher, alles gleichmäßig aufzuteilen. Tatsächlich hat jedoch der andere das Geld gefunden und kann es ausgeben, wie er möchte. Dennoch denken viele nicht oft darüber nach, und daher empfinden viele die Situation als unfaire Aufteilung.

Psychologen haben herausgefunden, dass die „Grenze der Ehrlichkeit“ in diesem Fall irgendwo im Bereich zwischen 30 und 70 liegt, d. h., nur wenige Menschen würden weniger als dreißig von hundert Rubel als fairen und gerechten Anteil betrachten.

Diesmal beschlossen die Forscher, die psychologischen Ergebnisse mit einem Positronen-Emissions-Scan des Gehirns zu vergleichen. Mithilfe eines PET-Scanners analysierten die Wissenschaftler den Serotoningehalt im zentralen Nervensystem. Es stellte sich heraus, dass diejenigen, die mehr Serotonin produzieren, flexiblere Ehrlichkeitsparameter haben. Das heißt, die Tendenz, einem geringeren Anteil bei der Aufteilung zuzustimmen, ging mit einem erhöhten Serotoninspiegel in den Raphekernen einher – dem Bereich des Gehirns, in dem dieser Neurotransmitter synthetisiert wird.

Die Autoren betonen, dass dies nicht mit der Aggressivität einer Person zusammenhängt, sondern mit ihrem Vertrauen. Es wurde bereits gezeigt, dass niedrige Serotoninspiegel charakteristisch für Menschen sind, die anderen übermäßig vertrauen: Möglicherweise entwickeln solche Personen als Ausgleich ziemlich strenge Verhaltensregeln und reagieren deshalb empfindlich auf selbst die kleinste Ungerechtigkeit.

Serotonin ist wahrhaft allmächtig: Es beeinflusst Schlaf, Gedächtnis, Appetit und eine ganze Reihe physiologischer Prozesse, von der Verdauung bis zur Ejakulation. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass ein so komplexes kognitives Konstrukt wie das Gerechtigkeitsgefühl durch Schwankungen nur einer Substanz verursacht wird. Höchstwahrscheinlich wirkt Serotonin hier zusammen mit den Frontallappen des Gehirns, die für höhere kognitive Funktionen verantwortlich sind. Daher sollten wir vorerst vorsichtig sein und nur über den Zusammenhang zwischen Ehrlichkeit und Serotoninspiegel sprechen.