In völliger Dunkelheit mobilisiert das Gehirn seine eigenen früheren Lebens- und Seherfahrungen

In völliger Dunkelheit teilt das Gehirn dem visuellen System mit, was seiner Meinung nach dort sein sollte. Dabei mobilisiert das Gehirn seine eigenen früheren Lebens- und Seherfahrungen.

Wie reagiert unser Gehirn auf völlige Dunkelheit? Intuitiv könnte man annehmen, dass der visuelle Kortex ohne Reize stumm ist. Im Extremfall zeigen seine Neuronen nur eine sehr schwache Aktivität. Als Forscher erstmals versuchten, die spontane Aktivität von Gehirnneuronen ohne visuelle Reize aufzuzeichnen, entdeckten sie eine starke und koordinierte Reaktion der Sehzentren. Das verblüffte sie. Warum verschwendet das Gehirn Zeit und Energie mit der Analyse eines „leeren Bildes“, das von außen auf es trifft? Nach einiger Zeit kamen Neurophysiologen zu dem Schluss, dass das Gehirn in diesem Moment nicht das verarbeitet, was vor den Augen ist, sondern das, was sein könnte.

Die Analyse visueller Informationen basiert auf bestimmten imaginären Modellen der umgebenden Welt, die das Gehirn im Laufe seines Lebens auf der Grundlage visueller Erfahrungen erstellt. Betrachten wir beispielsweise ein Foto einer Stadtansicht, erkennen wir sofort, dass die Menschen im Vordergrund viel kleiner sind als die Brücke oder die Hochhäuser im Hintergrund, obwohl auf dem Bild alles andersherum aussieht. Und wenn wir auf einem Foto einen Elefanten hinter einem Baum stehen sehen, bilden seine beiden Hälften in unseren Gedanken ein einziges Tier; es käme uns nie in den Sinn, ihn für zwei unabhängige „Objekte“ zu halten. Das Gehirn ergänzt ständig die fehlenden Informationen und interpretiert das resultierende Bild anhand vorheriger „Bilder der Realität“.

Mehrere Forscher der Universität Cambridge (Großbritannien) vermuteten, dass das Gehirn im Dunkeln nicht ruht, sondern uns ein Bild übermittelt, das wir sehen könnten, wenn es nicht so dunkel wäre. Das Experiment wurde mit mehreren Frettchen unterschiedlichen Alters durchgeführt und umfasste Folgendes: Die Tiere wurden entweder in einen dunklen Raum gebracht, ihnen wurde ein Film gezeigt oder es wurden unbekannte Objekte auf dem Bildschirm dargestellt. Begleitet wurde dies von einer Aufzeichnung der Aktivität des präfrontalen Kortex.

Wie die Forscher in der Fachzeitschrift „Science“ schreiben, unterschied sich die Gehirnaktivität im Dunkeln bei jungen Tieren deutlich von der Aktivität als Reaktion auf visuelle Reize. Mit zunehmendem Alter ähnelte die Gehirnaktivität im Dunkeln jedoch zunehmend der als Reaktion auf visuelle Reize. Zudem ähnelte die spontane („dunkle“) neuronale Aktivität eher der Aktivität des Gehirns als Reaktion auf einen Film als auf eine Abfolge unbekannter Bilder.

Mit anderen Worten: Wenn Informationen fehlen, versucht das Gehirn, diese mit den natürlichsten Elementen zu füllen, die nach seinem Verständnis vorhanden sein sollten. Und diese fehlenden Elemente entnimmt es grob gesagt der „Bilddatenbank“, die im Laufe des Lebens entsteht. Offensichtlich füllt ein erwachsenes Frettchen die umgebende Dunkelheit mit vertrauten Bildern und nicht mit irgendwelchen geometrischen Figuren. Aber junge und unerfahrene Tiere haben nichts, woraus sie die umgebende Dunkelheit schöpfen könnten: Ihnen fehlt die nötige Lebens- und Seherfahrung dafür.

Dasselbe passiert beim Menschen: Aufgrund fehlender Informationen greift das Gehirn auf Modelle der umgebenden Realität zurück, die sich im Laufe des Lebens gebildet haben. Dies sollte sicherlich bei der Behandlung verschiedener psychischer Störungen wie Schizophrenie hilfreich sein, bei denen diese innere „Weltordnung“ gestört ist. Aber erklären solche Ergebnisse nicht gleichzeitig viele soziale, kulturelle und politische Phänomene unseres Alltags? Schließlich lassen sich solche Modelle nicht nur für das visuelle System erstellen.

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